Unlängst habe ich 300 g Karma-Schinken mit mir herumgetragen. Es war wohl Goethes Rache.
Zweimal dürft ihr raten, wer bei uns zuhause die Erziehungsratgeber liest. Falsch. Nicht ich, sondern der gute Mann. Während ich mich noch durch „Oje, ich wachse“ gewurschtelt und bei jedem Entwicklungssprung wissend und verständnisvoll genickt habe, nachdem ich die Woche davor dachte: „Was ist mit diesem Kind los?“, nur um dann herauszufinden, was mir alle zu erklären versuchten – „Es ist nur eine Phase“ –, betreibe ich heute eher das selektive Lesen. Unterschieden wird zwischen Vorlesen und Skimming/Scanning. Autopilotiertes Vorlesen von 19 Pixi-Büchern oder allen vier Lieselotte-Kuh-Büchern in unserem Besitz funktioniert genauso gut wie die Entschlüsselung von Straßenschildern und Werbetafeln während des Autofahrens, das ich auch dann beherrsche, wenn die Kinder fragen: „Was steht da?“ während Pumuckls aufgebrachte Stimme aus den Lautsprecherboxen kreischt. Ich weiß zwar nachher nicht, was ich gelesen habe, ich kann aber mit Sicherheit und Heiserkeit in der Stimme sagen, dass ich die komplette Schachtel Pixi-Bücher gelesen habe. Und dass ich das Auto sicher abgestellt habe, wird durch meine Fähigkeit, diese Zeilen zu verfassen, bestätigt. Darüber hinaus bin ich meisterlich im scan reading von Medikamenten-Packungsbeilagen geworden – es wird lediglich nach den bedrohlichsten Nebenwirkungen gescannt. Kochrezepte skimmt man am besten – überfliegen, die wichtigsten Eckdaten (genauso wie die scheußlichen Rosinen*) rauspicken, wer muss schon genau wissen, wie’s gemacht wird? *Der Mensch, der diese Redewendung als etwas Positives getextet hat, ist 50 % aller KuchenesserInnen offenbar nie begegnet.
Früher las ich gerne. Sinnerfassend! Zwischen den Zeilen. Lebensveränderndes.
Heute lese ich, was man mir unter die Nase hält: Nachrichten, Newsletter, kompaktes (Schein-)Wissen, Socia Media Feeds, E-Mails, berufsrelevante Texte.
Und auch wenn ich mich redlich bemühe, diesbezüglich wieder in gute Angewohnheiten zu finden, indem ich mir in jeden Urlaub ein Buch mitnehme, sieht es aktuell so aus, dass ich seit fast einem Jahr an vier Büchern gleichzeitig lese und die Bücher schon zwei Mal in England, in Madrid und in Oberösterreich waren. Eines habe ich sogar auf dem Hochkar spazieren getragen, weil ich vergessen hatte, dass es in meiner Tasche lag – 300 g Karma.
Im Gegensatz zu den in „Oje, ich wachse“ beschriebenen Phasen, die im Leben der Kinder verstrichen sind, hält sich diese, meine, hartnäckig. Ich habe aber mittlerweile verstanden, dass es nicht das Zeit haben, sondern das Zeit nehmen ist. Ja, mein Hirn ist am Ende des Tages Apfel-Marillen-Mus und ja, meine Konzentration reicht nach Arbeit, Kindern, Haushalt und Dies-und-das-nicht-vergessen grade mal für eine Folge „Life in pieces“ oder – wenn ich den ehrgeizigen Versuch zu lesen starte – oft nur eine Seite lang, aber damit muss Schluss sein.
Schon Goethe sagte: „Man liest viel zu viel geringe Sachen, womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat. Man sollte eigentlich immer nur das lesen, was man bewundert.“*
*Aus: „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ von Johann Peter Eckermann, Insel Verlag
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