Worauf Eltern sich immer verlassen dürfen

Das Kind, das sonst immer an der Straße stehen bleibt, läuft auf die Straßenbahnschienen. Worauf man sich immer verlassen kann und von welchen Dingen man annehmen darf, dass sie nie passieren.
Marillenblüte Marillenbaum Frühling
Ich bin eine Mama der Marke Schisser. Kann nicht hinschauen, wenn fremde Kinder hoch klettern, muss daneben stehen, wenn meine es probieren, in Menschenmengen Hand geben, überlegen, ob man den Kindern die Elterntelefonnummer nicht vielleicht doch mit Marker auf den Arm schreibt, etwas germaphob, „Achtung, da kommt …“. Ich bin risikosensibel. Und genau deshalb hat mich das, was gestern passiert ist, eiskalt erwischt. Weil ich mir so sicher war, dass es das in unserer kleinen Welt nicht gibt. Der kleine Lord (4), die Lady (6) und ich waren mit Freunden in einer großen Parkanlage in der Nähe. Ein schöner, sonniger Nachmittag, viel Toben und Spielen. Alles war gut. Wir waren im Begriff nach Hause zu gehen, da rennt der kleine Lord mit einem befreundeten Kind los – wie sie es immer machen. Sie kennen den Weg. Sie rennen. Vorbei an den Blumenbeeten, vorbei an einem Schuppen, vorbei am Ziegengehege.

Es ist lustig und übermütig.

Die größeren Geschwister rennen hinterher, die Kleinen rennen schnell. Die Großen werden langsamer. Sie wissen, wo sie stehenbleiben müssen und rufen den immer noch laufenden kleinen Geschwistern „Stopp. Stopp.“ hinterher. Es ist der belehrende Tonfall, mit dem sie die Kleinen ausbremsen wollen, weil Rennen immer etwas mit Gewinnen und Erstersein zu tun hat. Aber sie hören nicht. Sie laufen. „Stoooopp“, rufen die Großen im Chor, der Tonfall wechselt in Dringlichkeit, „Stopp!“, ruft auch die andere Mama. Wir werden nervös. Aber unsere Kinder machen das nicht, die rennen nicht auf die Straße. Unsere Kinder bleiben am Zaun stehen. Weder der kleine Lord, noch das befreundete Kind sind jemals alleine auf die Straße gelaufen.

Aber sie werden nicht langsamer.

Ich renne los. Zu spät. Ich merke es. Es ist zu spät. Sie bremsen sich nicht ein. Ich schreie „Stopp“, überhole die immer noch rufenden Großen. Die Kleinen hören nicht. Und als ich bei ihnen ankomme, stehen die beiden mitten auf den Schienen der Straßenbahn, die in einer Ebene zum Parkausgang, direkt vor dem Zaun ihre Gleise hat. Ich glaube, dass ich die beiden ziemlich angebrüllt habe. Ich weiß es nicht. Ich weine, wenn ich die Situation durchspiele. Aber ich spiele sie immer und immer wieder ab. Wann hätte ich loslaufen müssen, um sie rechtzeitig zu erwischen? Warum habe ich, bei all dem panischen, unnötigen Müll, den ich meinen Kindern immer wieder einschärfe, nicht auch gesagt: „Aber beim Zaun bleibst Du stehen!“? Der kleine Lord ist vier. Etwas Vergleichbares ist mir noch nie passiert. Mein Kind bleibt stehen. Das befreundete Kind ist vier. Etwas Vergleichbares ist der anderen Mama noch nie passiert. Ihr Kind bleibt stehen. Ich erzähle das heute sehr bewusst, auch wenn es mich wie eine verantwortungslose Rabenmama dastehen lässt. Ich will Euch ersparen, dass Ihr Euch auf das „Immer“ und „Nie“ verlasst. Ich bin generell sehr vorsichtig mit diesen beiden Wörtern, weil sie Glaubenssätze in uns erschaffen, die nicht der Wahrheit entsprechen („Du kommst immer zu spät“, „Du räumst nie auf“, „Du machst es immer anders, als ich es Dir gesagt habe“), aber bis vor 24 Stunden hätte ich darauf geschworen, dass mein Kind weiß, dass es nie, nie, nie auf die Straßenbahnschienen laufen darf. Gestern habe ich mich auf ein „Nie“ verlassen. Heute weiß ich, der kleine Lord rennt nicht „nie auf die Straße“, sondern der kleine Lord „weiß meistens, wann er stehen zu bleiben hat.“

Beiden Schätzen ist nichts passiert.

Die Minuten danach sind in meinem Kopf verschwommen. Immer wieder habe ich gefragt, warum er durch das (offene) Tor gelaufen ist. Er weiß es nicht. „Wir waren nicht auf der Straße, da ist ja noch ein Gitter davor“ – stimmt, der Gleiskörper ist nämlich zwischen Park und Straße und vor der ist auch noch ein Geländer. Mein „Aber … das ist gefährlich“, „Aber … wenn eine Straßenbahn kommt, bist Du tot!“, „Aber … wir haben Stopp gerufen!“ hilft nichts. Ich ringe mit meinen Horrorszenarien und Argumenten darum, bei ihm anzudocken. Wo ist der Knopf, der mir das Gefühl gibt, dass bei ihm ein Licht aufgegangen ist?, dass er verstanden hat, womit wir es hier zu tun hatten? Er bleibt sehr ruhig.

Wir sind zu Hause.

Die Lady zieht den kleinen Lord in ihr Zimmer, während ich die Badewanne einlasse. „Das darfst Du nie wieder machen! Du könntest tot sein!“, beschwört ihn die Lady, die wütend aus dem Zimmer stürmt, als er ihr nur „Okay“ entgegnet. Beim Abendessen kommen mir immer wieder die Tränen. Heerscharen an Schutzengeln. Ich bin dankbar. Ich weine. Ich muss ihn ständig abschmusen, ich muss ihn halten. Weil ich es kann. Weil er da sitzt. Ganz heil. Es hätte so anders sein können. Es hätte der schlimmste Tag in meinem bisherigen Leben sein können. Es hätte alles für immer anders sein können. Ja, für IMMER. Ich zerfleische mich. „Ach Mama, wein doch nicht“, tröstet mich die Lady, „es ist nix passiert. Es war keine Straßenbahn da. Du darfst nicht immer darüber nachdenken, was passieren kann.“ Die Absolution einer Sechsjährigen. Sie bricht mir das Herz.

Dankbar. Für immer.

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2 Antworten

  1. Wie schrecklich. Ich bin auch so vorsichtig aber mir ist es auch mal passiert, dass mein Kind (3) auf die Straße gerannt ist. Ein Auto kam, konnte aber bremsen. Das Kopfkino danach was furchtbar.

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